Ein Leutesdorfer erinnert sich

 

 

                                                                                             Dämmerstunde.

Auf Flohmärkten und in Antiquitätengeschäften findet man sie noch: Abgewetzte Fußschemel, auch Schabellchen genannt, und Petroleumlampen, sowie die alten Märchenbücher, von deren Inhalt wir nie genug kriegen konnten. Sie erinnern mich noch heute an die Kindheit, die nun über ein halbes Jahrhundert zurückliegt.

Wenn die Abende länger wurden und der Winter vor der Türe stand, begann für uns Kinder eine gemütliche Zeit. Die Traubenlese war vorüber, Sauerkraut und Fitschelbohnen in großen Steintöpfen im Keller untergebracht und der Garten für den Winter vorbereitet. Morgens lag Rauhreif auf den Wegen und schon in der Frühe begannen die Nebelhörner der Schiffe auf dem Rhein mit ihrem langgezogenen Tuuut. Sie tuckerten langsamer als sonst und die Schiffer hatten alle Mühe, aneinander vorbeizukommen. Diesiger Dunst behinderte die Sicht; Radar, wie es heute üblich ist, gab es noch nicht. Manchmal war es bereits so kalt, daß wir ein Guckloch in die mit Eisblumen verzierten Fensterscheiben hauchen mußten, um hinaussehen zu können. Schemenhaft sahen wir dann die großen Schlepper, die ihre Kähne rheinaufwärts zogen.

Im Kanonenofen im Zimmer prasselten die Rebenbündel und verbreiteten einen angenehmen Duft. Der Vater hatte ein Bündel Tannenreisig aus dem Wald mitgebracht und einige große Tannenzapfen. Die Mutter kramte aus der Schachtel mit der Aufschrift "Advent" rote Schleifen, Blumendraht und Kerzenhalter hervor und bald entstand ein großer Adventskranz mit vier dicken, roten Kerzen. Mit Hilfe des Drahtes und der Schleifen wurde er unter der Stubendecke aufgehängt. Uns Kindern kam er riesig vor. Wenn dann am Abend die erste Kerze angezündet wurde und der flackernde Schein das Zimmer erhellte, begann die Dämmerstunde.

Die Oma saß in ihrem bequemen Sessel, zog hin und wieder den Stubenwagen mit dem jüngsten Bruder hin und her oder wickelte Wolle auf, deren Strang wir mit unseren Armen halten mußten. Dann  schlug sie das dicke, vergriffene Märchenbuch auf. Mein zweiter Bruder und ich stritten uns um den besten Platz auf dem Fußbänkchen zu Omas Füßen. Auf dem Tisch flackerte die Petroleumlampe mit der Adventskerze um die Wette. Auf dem Ofen schmurgelten Bratäpfel, die die ganze Stube mit ihrem Duft erfüllten. Nun wurden Rotkäppchen und der Wolf, die sieben Geißlein und Rumpelstielzchen für uns lebendig. Es war schwer, uns ins Bett zu kriegen. Noch im Traum sahen wir den Jäger, der den bösen Wolf erlegte, und die Hexe, wie sie im Ofen schmorte.

So erlebten wir manche Abende, bis uns der Nikolaus und das Christkind wieder neue Eindrücke vermittelten. Mit Dankbarkeit kann ich auf eine unbeschwerte Kindheit zurückblicken, bis dann allzubald der Krieg mit seinen Greueln folgte.

H.Mohr