Ein Leutesdorfer erinnert sich

 

                                                                     Vor fünfzig Jahren (1944)


Wir schreiben heute das Jahr 1994. Ich will versuchen, die Situation vor fünfzig Jahren, im Kriegsjahr 1944, zu beschreiben, so wie sie mir noch heute in Erinnerung ist. Es war ein Katastrophenjahr. Ein Unwetter schwemmte unsere Weinberge aus, wir wurden ausgebombt, umquartiert, die Schule wurde geschlossen, und der Krieg wurde immer verheerender.

Mein Bruder und ich waren seit Herbst 1943 Schüler des Gymnasiums in Neuwied. Unser Zug dorthin fuhr morgens kurz nach sieben Uhr. Wir mußten zeitig aufstehen, um pünktlich am Bahnhof zu sein. Oft aber hatte der Zug Verspätung, weil Militärzüge vorgelassen wurden. In Neuwied ging es dann im Dauerlauf zum Gymnasium. Auf dem Stundenplan standen die normalen Schulfächer, vor allem aber Turnen. Deutsche Schüler hatten sportlich zu sein. An Fremdsprachen wurde Latein und Englisch gelehrt. Religion war vernachlässigt, Kreuze an den Wänden waren durch Hitlerbilder ersetzt. Schulbücher bekamen wir leihweise am Anfang des Schuljahres von den Schülern der Vorklasse. Am Ende des Schuljahres wurden sie an die nächste Klasse weitergegeben. Oft gab es Fliegeralarm. Dann wurde der Unterricht unterbrochen und manchmal in den Gängen des Kellers fortgesetzt. Mittags gegen zwei Uhr fuhr der Zug wieder zurück. Aber auch jetzt mußten wir oft lange warten, bis er endlich ankam. Immer wieder passierten Militärzüge die Strecke und oft blieben sie auch im Bahnhof stehen, um Soldaten abzuholen oder aussteigen zu lassen. Diese Züge hatten vorne und hinten je einen Wagen mit einer Vierlingsflak, die den Zug gegen Tiefflieger schützen sollte. Die Soldaten an den Geschützen waren kaum älter als wir, die Geschützrohre mit weißen Ringen bemalt, die die Abschüsse markierten. Am traurigsten aber waren die Lazarettzüge, in denen wir die verwundeten Soldaten in Begleitung ihrer Rot-Kreuz Schwestern sehen konnten. Wir hatten Angst, wenn wir auf dem Bahnsteig standen und auf unseren Zug warteten. Bahnhöfe waren ein bevorzugtes Ziel der Jagdbomber und Tiefflieger, die Bomben abwarfen und mit ihren Bordkanonen auf alles schossen, was sich bewegte.

Kaum zu Hause, mußten die Aufgaben gemacht werden. Hier erging es uns nicht besser, als den Schülern heutzutage. Unterstützung fanden wir wenig, denn gemeinsames Lernen mit Schulkameraden war wegen des häufigen Fliegeralarms kaum möglich. Es gab kein Schreibpapier und Taschenrechner oder Kugelschreiber kannten wir noch nicht. Wir schrieben mit Bleistift oder Füllhalter. Ein Hilfsmittel, das heute kaum noch jemand kennt, war der Rechenschieber, mit dem zu rechnen meist Glücksache war. Oft hatten wir abends noch HJ Dienst und das hieß: Antreten im Hof der alten Schule, Parolen anhören, Freiwillige vor zum Sammeln von Geld und Wertsachen für die Rüstung oder Tee für die Krankenhäuser. Wir mußten stets ein Auge haben auf abgeworfene Flugblätter, Falschgeld oder Lebensmittelmarken, die unverzüglich abzugeben waren. Zum Spielen kamen wir nicht, das Leben war zu ernst.                                                      
                                                           
Im Juni hörte man im Radio, daß die ersten V1 eingesetzt worden seien und daß diese Wunderwaffen den Krieg bald beenden würden. Der Krieg war auch ein Jahr später beendet, aber anders, als die Propaganda es vorausgesagt hatte. Was weniger laut zu hören war, waren die Nachrichten von der Invasion der Alliierten in der Normandie. Wir waren kriegsmüde und insgeheim wünschten sich die meisten die Amerikaner bald am Rhein. Dies laut zu sagen, war damals lebensgefährlich. Noch wurde weiter gekämpft und weiter gestorben. Immer öfter sahen wir sie jetzt auch, die V1 mit ihren Stummelflügeln und der niedrigen Flugbahn. Später kamen die V2 hinzu, von denen man nur die Kondenzstreifen sah. Viele erreichten nie ihr Ziel, sondern stürzten bereits nach kurzem Flug ab.

Im Sommer gab es ein verheerendes Unwetter mit Wolkenbrüchen und Gewitter. Sturzbäche in allen Weinbergslagen und der Hohlbach überschwemmte die Hauptstraße mit Geröll und Schlamm. Es dauerte Tage, bis der schlimmste Dreck beseitigt war. Im oberen Pastal kann man noch heute die Rinnen sehen, die unter dem Gestrüpp verborgen sind. Wir hatten viele Rebstöcke in unseren Weinbergen im Rot und Forstberg verloren, die lange nicht ersetzt werden konnten.

Im Spätsommer fielen Bomben in die Lachergasse und wir wurden ausgebombt. Zum Glück kam niemand ums Leben. Notdürftig ging zunächst das Leben weiter. Man arrangierte sich zwischen Fliegeralarm und Anstehen um ein bißchen Brot, so gut es ging. In der Nacht zum 8. September wieder Alarm; aber diesmal wurde es ernst. In Richtung Neuwied sahen wir "Christbäume" am Himmel - das bedeutete "Großangriff". Vielleicht muß man den Begriff "Christbäume" etwas näher erklären, denn was damals zum täglichen Wortschatz gehörte, ist heute längst daraus verschwunden. Den Bomberpulks der Alliierten flogen sogenannte Pfadfinder voraus, die mit besonderen Zielgeräten die Städte und Industrieanlagen, die angegriffen werden sollten, suchten und dann mit Leuchtbomben markierten. Diese Leuchtbomben sahen wie bunte Christbäume aus und blieben minutenlang am Himmel stehen. Innerhalb der Markierungen warfen dann die nachfolgenden Bomber ihre todbringende Last ab. Der Bombenteppich, der in dieser Nacht auf Neuwied viel, kostete mehr als hundert Menschen das Leben und verwüstete die Stadt. Auch unsere Schule wurde zerstört. Wir hatten noch einige Wochen provisorischen Unterricht im Lyzeum der Mädchen, bis dann nach weiteren Luftangriffen der Unterricht ganz ausfiel. 

Anfang November erfolgte ein großer Luftangriff auf Irlich. Wieder starben 78 Menschen im Bombenhagel und die Eisenbahnbrücke über die Wied wurde total zerstört. Es war nun endgültig aus mit dem Schulbesuch in Neuwied. In Leutesdorf mußten wir unser Haus verlassen und wurden in eine Wohnung an der Hauptstraße umquartiert. Die Rheinfront sollte als große Verteidigungslinie ausgebaut werden. Zuständig dafür war der Volkssturm, den es seit August gab. Es waren meist alte Männer und Gefangene, die an der sogenannten Heimatfront kämpfen mußten. Ihr Kampf allerdings war wirkungslos und verzögerte nur das unausweichliche Ende.
                                                     
Lebensmittel zu beschaffen wurde immer schwieriger. Trotz Marken gab es kaum etwas zu kaufen. Die Geschäfte und Bäckereien konnten wegen der dauernden Angriffe nicht beliefert werden. Kam dann doch eine Lieferung durch, mußte man stundenlang anstehen, um ein Brot oder etwas Fleisch zu ergattern. Manchmal fuhren wir auch nach Andernach, wenn wir von einer Zuteilung dort hörten. Einmal mußten wir sogar mehrere Tage auf der anderen Rheinseite bleiben, weil uns der Rückweg abgeschnitten war. Mit Fliegeralarm mußte man ständig rechnen und dann hieß es, schnellstens den nächsten Luftschutzkeller aufzusuchen. Überall an den Hauswänden sah man mit weißer Farbe aufgezeichnete Hinweise, wo der nächstgelegene Keller ist. Dann war man allein unter fremden Menschen in einem fremden Haus oder einem Bunker und hoffte, daß nichts passiert.

Das Kriegsjahr 1944 haben wir überlebt, und heute, fünfzig Jahre später, in Frieden und Wohlstand, fällt es einem schwer, die Trostlosigkeit jener Zeit nachzuvollziehen. Dann schaut man im Fernsehen die Nachrichten über Jugoslawien, Georgien und andere Kriegsgebiete und schon sind sie wieder da, die Bilder der damals zerstörten Städte wie Köln, Dresden, Stuttgart und Essen. Frieden? was ist das?

H.Mohr

Veröffentlicht in
"Heimatjahrbuch des Landkreises Neuwied"
Jahr 1995