Ein Leutesdorfer erinnert sich

 

                                                                Vor fünfzig Jahren. (1946)

Wir schreiben heute das Jahr 1996. Ich will versuchen, die Situation im Jahr 1946 zu beschreiben, so wie sie mir heute noch in Erinnerung ist. Es war ein Hungerjahr mit unvorstellbarer Not, aber auch mit der Aussicht auf eine bessere Zukunft.

Zunächst galt es im Jahr 1946, den Hunger zu stillen und wieder einigermaßen normale Lebensbedingungen zu schaffen. Das alte  Rationierungssystem für Kleidung und Lebensmittel, das bereits am 27.8.1939, kurz vor Beginn des zweiten Weltkrieges,  eingeführt worden war, ist von den Alliierten übernommen worden. Doch was nutzten Lebensmittelmarken, wenn es kaum etwas  dafür zu kaufen gab. Auch die Wohnverhältnisse waren katastrophal. Unser Haus am Rhein, bei dem Luftangriff im Spätsommer 1944 teilweise zerstört und nur notdürftig repariert, war für baufällig erklärt und uns im Laacher Hof eine neue Wohnung zugewiesen worden. Wir hatten zwar wieder Strom und Wasser, aber darauf verlassen konnte man sich nie. Es gab Störungen oder Stromsperrungen, weil zuerst die Besatzungsmacht versorgt wurde. So war es auch mit der Versorgung mit Lebensmitteln und Brennstoff. Leutesdorf gehörte nach dem Abzug der Amerikaner Ende 1945 zur französisch besetzten Zone. Die Franzosen hatten durch den Krieg selbst sehr stark gelitten und anders als die Amerikaner konnten sie ihre Soldaten nicht selbst versorgen. So wurde der größte Teil der Ernteerträge zuerst für die Besatzungsmacht gebraucht; Erst dann wurde die Zivilbevölkerung versorgt. Hier ein paar Zahlen, die angeben, wie 1946 die monatlichen Rationen pro Erwachsenen aussahen:
 
Fleisch und Wurstwaren     ca. 440 gr.
Fett und Öl (meist Rüböl)  ca. 275 gr.
Milch nur f.Kinder, für Erwachsene kaum       
Eier                           5-10 Stk
Zucker                     ca. 200 gr.
Marmelade nur für Schwerarbeiter,
Hülsenfrüchte erst ab 1947
Nährmittel, meist Graupen  ca. 135 gr.
Käse und Quark             ca. 150 gr.
Fisch erst ab 1947
Gemüse mußte man selbst anbauen,
Kartoffel ab und zu als Sonderzuteilung.

Daß man mit diesen Zuteilungen nicht auskommen konnte, liegt auf der Hand, zumal es Transportprobleme gab. Man erhielt längst nicht jede zustehende Ration. Schlangestehen, um etwas zu kaufen, war an der Tagesordnung. Lebensmittelmarken verfielen, wenn in einer Periode nicht alle Marken verbraucht waren. Wir Kinder gingen hamstern, d.h. wir fuhren mit dem Fahrrad aufs Land und versuchten, bei den Bauern etwas Eßbares zu ergattern. Wir hatten Verwandte in Plaidt, die uns oft etwas von ihrem Gemüse abgaben. Dabei war die Fahrt nach Plaidt schwierig, weil wir in Neuwied über den Rhein mußten. Als Schulkinder durften wir die Behelfsbrücke dort benutzen, mußten aber jedesmal die Entlausung über uns ergehen lassen. Dabei wurde ein Desinfektionsstaub in Ärmel und Hose gepustet, der mehr juckte als die nicht vorhandenen Läuse. Eines Tages erhielten wir ein Carepaket von einer Freundin der Mutter, die vor dem Kriege nach Kalifornien ausgewandert war. Das Paket war eine echte Überraschung. Erdnußbutter, Schokolade, Milchpulver und Bohnenkaffee, alles Schätze wie wir sie lange nicht gesehen hatten.

Ein großes Problem war die Beschaffung von Brennmaterial zum Heizen. Wir Kinder halfen dabei, indem wir im Sommer an die Schiffe schwammen, die Briketts geladen hatten und wo wir uns versorgten. Dabei banden wir einen Turm von 15 oder auch 21 Stück Briketts mit einem Ledergürtel zusammen und bevor uns der Schiffsführer erwischen konnte, waren wir wieder im Rhein. Auch fuhren wir öfter mit dem Handwagen ins Bachmühltal zum Knüppelholz schlagen. Das Jahr 1946 war ein gutes Bucheckerjahr und so war im Herbst Bucheckersammeln angesagt. Das war ein mühseliges Geschäft, bis man die sieben Kilo zusammenhatte, die bei der Sammelstelle ein Liter Bucheckeröl brachten.

Raucher wurden zu "Kippensammlern". Sie bückten sich nach jedem weggeworfenen Zigarettenstummel und die ganz Schlauen ergatterten mit leeren Hülsen bei der Bitte um Feuer einen Zug aus der fremden Zigarette. Es ging überhaupt sehr trickreich zu, im Jahr 1946. Da es weder Socken noch Wolle zum Stricken gab, wurden aus alten Bettdecken Fußlappen gerissen und um die Füße gewickelt, bevor man die zerschlissenen Schuhe anzog. Aus Gerste, die man auf den abgeernteten Feldern sammelte, wurde in der Bratpfanne Kaffee geröstet. Selbst vor dem elektrischen Strom machte der Trickreichtum nicht halt: Sicherungen wurden mit einem Stück Draht oder Stanniolpapier selbst geflickt. 

Als Schüler des Gymnasiums in Neuwied war es schwer, täglich dorthin zu gelangen. Die Eisenbahn fuhr zwar wieder seit Mitte September 1945, aber die Züge hatten oft Verspätung oder fielen ganz aus. Fuhren sie, so waren sie so besetzt, daß wir kaum einen Platz bekamen. Die Leute standen auf den Trittbrettern und Puffern und die alten Dampflokomotiven stießen soviel Ruß aus, daß man sich noch lange die Augen reiben mußte. Oft liefen wir die sieben Kilometer nach Neuwied zu Fuß oder reifelten mit einer alten Fahrradfelge, wenn wir es eilig hatten. Auch in der Schule hatten wir es schwer. Es gab kaum Bücher und kein Schreibzeug, doch der Lernstoff mußte bewältigt werden. So schrieben wir auf alles, was irgendwie weiß war.

Erst ganz allmählich normalisierte sich das Leben und es sollte noch bis zur Währungsreform im Juni 1948 oder bis zum Ablauf der letzten Zuckerkarte im April 1950 dauern, bis wieder normale Verhältnisse herrschten. Am 30. August 1946 verfügte die französische Besatzungsmacht die Bildung des Landes Rheinland-Pfalz und damit konnte das politische Leben in Gang kommen. Es gab wieder Parteien und die Menschen durften wieder zum Wählen gehen. Die Demokratie nahm ihren Anfang. Am 17. November 1946 wurde in Leutesdorf das erste Winzerfest nach dem Krieg gefeiert. Es gab wohl kaum einen Leutesdorfer, der nicht mit dabei war. In jedem war die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.    


H.Mohr