Ein Leutesdorfer erinnert sich

 

                                                                                          Vor fünfzig Jahren (1943)

Wir schreiben heute das Jahr 1993. Ich will einmal versuchen, die Situation im Jahr 1943 zu beschreiben, so wie sie mir und wahrscheinlich noch manchem Älteren in Leutesdorf in Erinnerung ist. Ich war damals gerade elf Jahre alt und so kann ich nur  aus der Sicht eines Schulbuben berichten, der die fünfte Volksschulklasse besucht.

Es war mitten im zweiten Weltkrieg. Das Kriegsglück hatte sich allerdings bereits im Winter 1942/43 mit der Schlacht um Stalingrad gewendet. Die britischen Bomberverbände, die deutsche Städte und Industrieanlagen bombardierten, wurden durch amerikanische verstärkt. Rommel hatte seine Panzerschlacht bei El Alamein in Nordafrika verloren. Die Alliierten landeten in Sizilien, Mussolini wurde gestürzt und Italien kapitulierte. Die Vorherrschaft Deutschlands auf See und in der Luft ging immer mehr verloren.

Schule hatten wir bei Herrn Brudermanns und Rektor Altmann. In den ersten Klassen hatten wir noch die Sütterlinschrift gelernt und  uns gerade an die lateinischen Buchstaben gewöhnt. Ab Herbst 1943 sollten einige Schüler, darunter mein Bruder und ich, das Gymnasium in Neuwied besuchen und so hatten wir uns auf die Aufnahmeprüfung dort vorzubereiten. Sport wurde damals als Unterrichtsfach groß geschrieben. Es ging mehrmals pro Woche rauf auf den Sportplatz beim Vogelsang. Aber auch Tee sammeln und Kartoffelkäfer suchen waren Beschäftigungen, an denen wir teilnehmen mußten. Mittwochs und sonntags hieß es "Antreten". Wir Jungen waren ja alle bei der Hitlerjugend und die Mädchen beim BDM. Es wurde durch`s Dorf marschiert mit Trommeln, Pfeifen und Fanfaren  und Marschlieder wurden gesungen. Es gab Geländespiele, die schon militärischen Charakter hatten und Sammlungen für das Winterhilfswerk. Wir mußten die Pimpfenprobe bestehen und durften dann das Fahrtenmesser tragen. Hitler hatte uns ganz schön vereinnahmt und ob es uns paßte, sind wir nicht gefragt worden; man hatte dabeizusein. Der Krieg war allgegenwärtig. Im Radio, es waren die heute so begehrten Volksempfänger, hörte man immer wieder neben Propaganda und Durchhalteparolen Militärmusik und Siegesmeldungen. Im März hatte Dr. Goebbels den totalen Krieg proklamiert und alles mußte sich diesem unterordnen. Überall wurde gespart; der "Kohlenklau" ging um und "SA-Mann Hirnebrett" war gegen jede Vergeudung ständig im Einsatz.

Zeitungen gab es nur wenige. Dorfneuigkeiten wurden "ausgeschellt". An bestimmten Plätzen im Ort machte sich der Dorfdiener mit einer großen Glocke (Schelle) und dem lauten Ruf: "Bekanntmachung" bemerkbar und las dann seine Nachrichten vor. Dieser Glocke, wenn sie noch existiert, gebührt eigentlich ein Ehrenplatz im Bürgermeisteramt, denn eine Unmenge guter und auch weniger guter Nachrichten wurden mit ihr angekündigt. 1943 ging es meist um Sonderzuteilungen von Kohlen, Hausrat oder Schuhen, Abholung von Bezugsscheinen und Lebensmittelkarten, Einquartierung oder Verdunklungszeiten.

Am Abend mußten die Fenster wegen der feindlichen Flieger verdunkelt werden. Es gab den Luftschutzwart, der dafür zu sorgen hatte, daß nirgendwo Licht durch die verdunkelten Fensterritzen drang. In jedem Keller, der als Schutzraum benutzt wurde, mußten Spitzhacken und Brecheisen bereitgehalten werden. Die Kellerdecken wurden mit Balken abgestützt. Auf den Speichern mußten zum Schutz gegen Brandbomben ein Kasten mit Sand, Eimer mit Wasser und Tüchern bereitstehen. Nachts gab es oft Alarm und aus dem Schlaf gerissen rannten wir in den Keller. Jeder hatte stets sein Notpäckchen dabei: Eine Decke, etwas zu trinken und wichtige Papiere. Wer sich nach draußen wagte, sah die Strahlen der Scheinwerfer in den Himmel zeigen und oft die Leuchtspuren der Flak. Dumpfes Motorengebrumm war am Himmel zu hören; manchmal auch das Geballer von Maschinengewehren, wenn es zu Luftkämpfen kam. Auf den Feldern waren tiefe Gräben gezogen, denn nun kam es zunehmend auch tagsüber zu Fliegeralarm. Wir beobachteten die Kämpfe zwischen deutschen und alliierten Jägern, wenn wir auf dem Feld arbeiteten. Oft mußten wir in den Gräben Schutz suchen vor Tieffliegern und Splittern. Es war ein beklemmendes Gefühl, die schweren viermotorigen Lancaster-Bomber und die zweirümpfigen Lightlings über uns hinwegfliegen zu sehen. Wir wußten ja, welch todbringende Fracht sie trugen. Begleitet wurden die Verbände von den schnittigen Spitfire, um die deutschen Jäger unter dem Kommando "Wilde Sau" abzuhalten. Einen ganz einfachen Trick wendeten die Amerikaner an, um deutsche Flugleitsysteme in die Irre zu führen: Um Flugzeuge vorzutäuschen, die nicht vorhanden waren, schütteten sie Mengen von "Lametta" aus, Aluminiumstreifen, die langsam zu Boden schwebten. Einmal stürzte ein amerikanischer Bomber oberhalb der Kreuzkirche ab und es war ein schrecklicher Anblick. Die Trümmer, Leichenteile und herumliegende Munition sind mir noch heute in unguter Erinnerung.

Wir Kinder mußten oft auf den Feldern und in den Weinbergen mithelfen, denn die Väter waren größtenteils eingezogen. Die Arbeit mußte getan werden. Im Jahr 1943 konnten noch Kartoffeln und Gemüse geerntet und die Trauben gelesen werden. Das war sehr wichtig, denn es half, die nächsten Jahre zu überstehen. Da der Krieg allgegenwärtig war, weiß ich auch kaum über etwas anderes aus dieser Zeit zu berichten. Wir hörten von den schrecklichen Bombardierungen deutscher Großstädte, vor allem im Ruhrgebiet. Als uns die Nachricht von einem Großangriff auf Remscheid erreichte, -hier lebte eine Tante mit ihrer Familie, fuhr ich mit der Großmutter dorthin. Es war abenteuerlich. Kein Zug fuhr mehr fahrplanmäßig, überall Umleitungen. Militärzüge hatten absolute Vorfahrt und immer wieder blieb unser Zug stehen, um diese vorbeizulassen. Endlich Ankunft in Remscheid. Überall Trümmer, manche rauchten noch. Die Großmutter, die hier gelebt hatte und sich auskannte, mußte lange suchen, bis sie das Haus ihrer Tochter gefunden hatte. Es war beschädigt, aber stand noch und auch die Familie hatte den Angriff im Keller überlebt. Die Stimmung war  gedrückt. Ich war sehr froh, als wir wieder heil in Leutesdorf ankamen und fand nun unsere eigene Situation nicht mehr so schlimm.

Im Herbst 1943 begann unsere Schulzeit in Neuwied. Täglich kurz nach sieben Uhr fuhr unser Zug. Oft auch hier Verspätung. Manchmal gab es auch tagsüber Fliegeralarm, und dann wurde der Unterricht in den Gängen des Kellers fortgesetzt. Der Lehrstoff war nun umfangreicher, die Lehrer knapp und manche Fächer waren ganz ausgefallen. Auch zu Hause mußte noch tüchtig gelernt werden. Da es kaum Schulbücher gab, wurden die Notizen aus dem Unterricht ausgearbeitet.  Sonntags gab es manchmal eine Abwechslung, wenn das Wanderkino im Saal des Winzervereins einen Film vorführte. "Quax der Bruchpilot" oder "Die Feuerzangenbowle" standen auf dem Programm. Daneben die "Wochenschau" und wieder viel Propaganda.

An Weihnachten kam der Vater auf Heimaturlaub für eine Woche nach Hause. Er war in Norwegen bei der Küstenartillerie stationiert und brachte Stockfisch mit, um etwas Abwechslung in den Speiseplan zu bringen. Der Fisch war knochenhart und mußte tagelang gewässert werden. Nach seiner Meinung lebten wir in der Heimat gefährlicher als er an der Front. Da war viel Wahres dran, denn es sollte für viele Jahre das letzte schöne Weihnachtsfest sein.

Das Jahr 1943 ging trostlos zu Ende. Die Zukunftsaussichten waren trübe. Überall wurde Optimismus verbreitet, obwohl jeder sah, daß die Realität eine andere war. Wunderwaffen sollten den "Endsieg" herbeiführen, aber keiner konnte so recht daran glauben. Niemand durfte sagen, was er dachte. Menschen verschwanden und es wurde viel gemunkelt. Daß es Konzentrationslager gab, ahnte man; aber nur hinter vorgehaltener Hand wurde darüber gesprochen. Sogenannte Feindsender abzuhören war streng verboten. Überall gab es Fanatiker, die stets bereit waren, andere zu denunzieren.  Alte Männer mußten zum "Volkssturm", wo sie für die Heimatfront ausgebildet wurden.  Sogar die Kirchenglocken wurden im Kirchturm abmontiert. Sie sollten eingeschmolzen und zu Kanonen verarbeitet werden. Immer jünger waren die Jahrgänge, die zum Militärdienst eingezogen wurden. Ich war froh, erst elf Jahre alt zu sein und noch im Schutz der Familie aufwachsen zu können.             
 
H.Mohr