Ein Leutesdorfer erinnert sich


                                                                    Vor fünfzig Jahren (1945)

Es war ein Jahr des Hoffens, das Jahr 1945. Wir schreiben heute das Jahr 1995. Im Rückblick muß man sagen, es hat sich alles zum Guten gewendet. Fünfzig Jahre Frieden und wachsender Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten, was will man mehr. Es hätte ja auch vieles anders kommen können. Was so alles in den Köpfen der damaligen Generäle der Siegermächte steckte: Deutschland ein Agrarstaat, für immer geteilt, ohne nennenswerte Industrien und auf Jahrzehnte am Bettelstab der übrigen Welt. Das Schicksal hat es gut mit uns gemeint, nach den Greueltaten eines verantwortungslosen Regimes.

Vor fünfzig Jahren wußte noch keiner, wie alles kommen würde. Am Anfang des Jahres 1945 ging es noch ums nackte Überleben. Der Krieg trieb seinem Ende zu. An allen Fronten waren die deutschen Soldaten auf dem Rückzug, mehr in Panik als geordnet, zerlumpt und von Hunger gezeichnet. Manche mit Fahrrädern ohne Reifen, auf den puren Felgen fahrend. Oft ohne Ziel, denn die Einheit, zu der sie gehörten, gab es vielleicht nicht mehr. Von Westen her wurden die Truppen zum Rhein getrieben und dort stauten sie sich, weil es keine Pioniere gab, die sie übersetzten. Wir hörten ihr "Holt uns rüber" und unter Einsatz des eigenen Lebens versuchten ältere Schulkameraden, mit Pontons und Nachen herüber zu holen, was möglich war. Sie wurden vom Kranenberg aus mit Maschinengewehren beschossen und einer meiner Kameraden verlor sein Leben bei diesem Einsatz. Die Soldaten versuchten, ihre Uniformen los zu werden, um als Zivilisten der Gefangenschaft zu entgehen. Aber da war die Waffen SS, Hitler's Schergen, mit ihren Standgerichten. Wer als Deserteur aufgegriffen wurde, war verloren. Wir waren Pimpfe, die jüngsten unter den Hitlerjungen. Gewaltige Konflikte hatten wir durchzustehen. Hier war der Fahneneid, den wir als Kinder bereits geleistet hatten. Dann die Kirche, die vom damaligen Staat bekämpft wurde, der wir aber durch Elternhaus, Kommunion und Firmung auch verpflichtet waren. Was denkt ein Dreizehnjähriger, der am Sonntag, zur Zeit des Hochamtes, mit besonders lauter Marschmusik am Kirchenportal vorbeimarschieren muß? Auch der immer deutlicher werdende Wahnwitz des Krieges bot reichlich Konfliktstoff. Doch Anfang 1945 löste sich das alles auf. Eine letzte große Schlacht in den Ardennen hatten die Alliierten schnell für sich entschieden und Anfang März standen sie am Rhein/Mosel Dreieck in Koblenz und in Remagen hatten sie die Brücke erobert und den Rhein überquert. Letzte Flakstellungen auf den Rheinhöhen, in Leutesdorf bei den Drei Masten, die noch bis zuletzt Abwehrfeuer gaben, wurde ausgeschaltet und nun gehörte auch der Luftraum über dem Rhein den Amerikanern.

Aus unserer Wohnung am Rhein waren wir vertrieben. Die Rheinfront sollte Verteidigungslinie sein, aber der Volkssturm, ein Haufen alter Männer, auch Frauen und Kriegsgefangene, ohne Ausrüstung und mit Armbinden anstelle von Uniformen, hatte keine Kraft zur Verteidigung mehr. Wir waren zur Oma am Neuen Weg gezogen, doch immer mehr Zeit verbrachten wir im Luftschutzkeller unter dem  Pfarrhaus. Dieser bot fast sicheren Schutz, denn er war zwei Stockwerke tief im Boden. Sich auf die Straße zu wagen, war lebensgefährlich. Morgens in der Frühe versuchten wir, in einem Geschäft etwas Brot zu ergattern, immer dicht an den Hauswänden entlang schleichend. Oben flog der Artilleriebeobachter, kurz ARI genannt. Von dort aus wurde der Artilleriebeschuß geleitet und wo sich etwas bewegte, schlugen Sekunden später Granaten ein. Aus Angst vor Repressalien mußte ich nochmal in unsere alte Wohnung am Rhein. Dort lagen in einem Panzerschrank Parteiabzeichen und NS-Papiere, die vernichtet werden mußten. Zusammen mit meinem Bruder schlich ich dorthin, an die Front. Die gefährlichen Indizien für eine Parteizugehörigkeit verschwanden in einem Bombentrichter. Mit viel Glück kamen wir wieder heil im Keller des Pfarrhauses an.

Dann, Mitte März, waren die Amerikaner da. Solche Massen an Panzern, Transportfahrzeugen und Jeeps hatten wir noch nie gesehen. Sie kamen über die Straße von Rheinbrohl her und direkt über den Rhein. Mit riesigen Pontons, Panzern mit verlängertem Turm und Amphibienfahrzeugen kamen sie an und stauten sich auf der Hauptstraße. Mehrere Tage lang gab es kein Vor und Zurück mehr. Sie mußten warten, bis Pioniereinheiten die Straßenbrücken in Fahr und Irlich, im letzten Moment von der SS gesprengt, wieder befahrbar gemacht und Mienenfelder geräumt hatten. Wir waren froh, daß das Kellerleben vorbei war und wir wieder frische Luft zum Atmen hatten. In einem richtigen Bett zu schlafen, ohne Angst vor Bombenangriffen und Beschuß, war eine Wohltat. Wir richteten uns wieder einigermaßen in unserem schwer beschädigten Haus am Rhein ein. In der Nachbarschaft, im Rheinecker Hof, hatten sich Amerikaner einquartiert. Wir Kinder pflegten mit ihnen einen guten Kontakt. In der Schule hatten wir schon etwas Englisch gelernt und halfen mit kleineren Übersetzungen. Dafür gab es dann eine Dose Konserven oder etwas Kaugummi. Es wurde viel geschossen, Zielübungen auf Dosen, die im Rhein schwammen oder einfach in die Luft. Eine besondere Sportart der Amerikaner war es, Handgranaten in den Rhein zu werfen, um kurz darauf dutzende von Fischen verendet und mit dem Bauch nach oben abtreiben zu sehen. Einmal entdeckte einer der Amerikaner mein Koppelschloß, das noch das Hakenkreuz aus den HJ-Tagen trug. Auf der Stelle zog er mir den Gürtel von der Hose und das Schloß landete im Rhein. Das Ufer selbst war vermient und noch monatelang für uns tabu. In der ersten Zeit der Besatzung mußten wir auch manchmal marodierende Horden, die nach Wein und Frauen suchten, mit unseren Englischkenntnissen abwehren. Schlimme Erlebnisse hatten wir dabei nicht, denn auch die Schwarzen waren meist gutmütig und entsprachen garnicht den Horrormeldungen, die man uns vermittelt hatte. Allerdings ganz ohne Zwischenfälle verlief das Leben damals nicht. Im Laacher Hof wurde ein Kind, das gerade in der Badewanne saß, durch einen Schuß aus dem unteren Stockwerk schwer verletzt.

Unser Leben war zunächst sehr beengt. Vom frühen Abend bis zum Morgen war Ausgangssperre und man durfte sich auf der Straße nicht sehen lassen. Es gab keinen Strom und es fehlte an den alltäglichen Dingen, die heute selbstverständlich sind. Erst ganz allmählich normalisierte sich das Leben und es sollte noch bis zur Währungsreform im Juni 1948 bzw. bis zum Ablauf der letzten Zuckerkarte im April 1950 dauern, bis wieder normale Verhältnisse herrschten. Fleißig wurde am Wiederaufbau gearbeitet. Zunächst mußten die gröbsten Kriegsschäden beseitigt werden. Große Bleche wurden verteilt, mit denen Mauerlöcher und abgedeckte Dächer notdürftig repariert wurden. Unser Haus am Rhein, bei einem Luftangriff im Spätsommer 1944 teilweise zerstört, konnten wir nicht mehr lange bewohnen. Es wurde für baufällig erklärt und wir zogen in eine zugewiesene Wohnung im Laacher Hof. Es dauerte bis zum Herbst, daß es wieder Strom gab, noch lange gestört durch dauernde Stromsperren. Auch der Eisenbahnverkehr lag still. Die Überführung bei Fahr war gesprengt und quer über die Schienen verlief die provisorische Straße. Die Eisenbahnbrücke über die Wied bei Irlich war total zerstört. Erst als Pioniereinheiten der Alliierten aufgeräumt und in Irlich eine Behelfsbrücke gebaut hatten, fuhren ab 12. September 1945 wieder die ersten Züge. Im Rhein lagen versenkte Frachtkähne, die jeden Schiffsverkehr unmöglich machten. Unsere Schule in Neuwied mußte auch erst repariert werden, bis im Sommer der Unterricht wieder beginnen konnte. Zunächst mußten wir die sieben Kilometer laufen oder hoffen, daß wir von einem Auto mitgenommen wurden. Das kam selten vor. Die Deutschen hatten kaum noch Autos und wenn doch, so keinen Treibstoff. Man behalf sich mit Holzvergasern, eine interessante Erfindung. Ein großer Zylinder war bei den Lastwagen an der Seite und bei Personenwagen hintendrauf montiert. Regelmäßig mußte er mit Holzstücken, die in großen Säcken mitgeführt wurden, beschickt werden. Die Militärautos der Amerikaner hielten auch nicht an. So versuchten wir, auf einen fahrenden Transporter hinten aufzuspringen. Ein gefährliches Unterfangen und nur zu verstehen aus der damaligen Situation. Als dann im Herbst wieder Züge fuhren waren diese so besetzt, daß die Leute auf den Trittbrettern oder Puffern standen und wir um einen Platz kämpfen mußten. Die Dampflokomotive stieß soviel Ruß aus, daß wir noch lange nach Beendigung der Fahrt die Augen auswischten. 

Ein Hauptproblem der ersten Nachkriegszeit war der Hunger. Die Alliierten hatten zwar das seit 1939 bewährte System der Rationierung übernommen. Was halfen aber Bezugsscheine und Lebensmittelkarten, wenn es kaum etwas dafür zu kaufen gab. Von dem, was die Bauern produzierten, wurde zuerst die Besatzung versorgt. Leutesdorf war nach dem Durchzug der Amerikaner seit Ende 1945 französisch besetzt und die Franzosen hatten selbst sehr unter dem Krieg zu leiden gehabt. Ihre Soldaten in Deutschland konnten sie nicht selbst verpflegen. So blieb für die Bevölkerung wenig übrig. Wir mußten betteln, Ähren und Bucheckern sammeln, Brennessel kochen und unsere letzte Habe auf dem Schwarzmarkt versetzen. Raucher wurden zu "Kippensammlern". Sie bückten sich nach jedem weggeworfenen Zigarettenstummel und die ganz Schlauen ergatterten mit leeren Hülsen bei der Bitte um Feuer einen Zug aus der fremden Zigarette. Um etwas zum Heizen zu haben, suchten wir stundenlang die Bahnstrecke von Fahr bis Hammerstein nach übriggebliebenen Kohlen ab, nachdem das Holz unserer zerstörten Scheune verbraucht war. Es war eine schlimme Zeit, aber der Krieg war vorbei und und unsere Hoffnung groß, daß es wieder bessere Zeiten für uns geben würde.

H.Mohr